Samstag, 1. Februar 2020

(1.5) Wirklichkeit und sprachliche Angemessenheit (2. Aufl.)

Luhmann hatte einen allgemeinen Systembegriff entwickelt, der lediglich Sinn voraussetzt, Bedeutung, irgendeine Ordnung (vgl. Luhmann, 1987). In diesem Kontext wäre auch ein Sammelsurium eine Ordnung, die sich hinsichtlich von Funktionszusammenhängen analysieren ließe. Doch die Vokabeln ‚Sinn‘ und ‚Bedeutung‘ ließen sich allgemein gar nicht verstehen, berücksichtigte man den einfachen Unterschied von Sprache und Sachen bzw. Sachverhalten. Würde man sich hingegen auf Sachen und Sachverhalte beschränken, könnte allenfalls von ‚Relevanz‘ die Rede sein, ohne dass klar werden könnte, in welcher Weise. ‚Ordnung‘ wird (a) zunächst derart weit gefasst, dass der Begriff nichts aussagt, (b) dann aber spezifisch, im Kontext von zu ermittelnden Funktionszusammenhängen.
Der von Luhmann präsentierte Systembegriff bietet nicht mehr als eine umgangssprachliche Herangehensweise,die alles andere als hilfreich ist, aber im Hinblick auf den Begriff ‚Ordnung‘ ein primär bürokratisches Anliegen kenntlich machen könnte. Das von mir anführte Sammelsurium ist hingegen ein Resultat historischer Prozesse, von Prozessen, die von unterschiedlichen Gruppen und Individuen geprägt wurden. Diese historische Perspektive vermeidet eine quasi-ontologische Fundierung, die aus ahistorischer Sicht erforderlich zu sein scheint, um überhaupt einen Anfang der Diskussion setzen zu können. Es bleibt nach meinem Ermessen kaum anderes übrig, als sich auf ein Abenteuer einzulassen, das ein historisch entstandenes Sammelsurium bieten kann.

Sprachlich macht es kaum einen Unterschied, ob ein historisch entstandenes Sammelsurium einer Wirklichkeit – im Rahmen menschlicher Erkenntnisbedingungen –, oder einer unabhängigen Realität zugerechnet wird. Die nutzbaren Worte für Beschreibung, Differenzierung und Analyse wären gleich. Erst im Kontext einiger methodischer Begriffe wie ‚Objektivität‘ und einer erkenntnistheoretischen Interpretation von historischen Ergebnissen würde der Unterschied auffallen können.
Weil methodische Erwägungen auch in dieser Arbeit von Relevanz sind, gebe ich einige Anmerkungen: Mir, so muss ich gestehen, bleibt eine Realität, die außerhalb meiner Erkenntnisbedingungen liegt, unzugänglich. Diese Bedingungen umfassen mehr als lediglich biologische, auch sprachliche und soziale, die historisch eingebettet sind. Die alte Frage nach Objektivität, in Abgrenzung zu Subjektivität, würde sich mir gar nicht stellen können, weil sie besonders auf historische Bedingungen keine hinreichende Rücksicht nimmt. Ich kann im vorliegenden Kontext lediglich nach sprachlicher Angemessenheit fragen, im Hinblick auf Bedeutung und Bezug – und, davon war bislang noch nicht die Rede, dies wird innerhalb der Studie aber erforderlich sein, auf sprachliches Verhalten. Eine allgemein reproduzierbare Methode lässt sich auf diese Weise nicht entwickeln, es lassen sich nur konkrete Fälle kontextabhängig behandeln.

Die Grenzen menschlicher Erkenntnis lassen sich erweitern, z.B. durch Messinstrumente und -verfahren, oder / und durch sprachliche Differenzierungen, die Unterschiede merklich machen können, einen größeren Detailreichtum erfassen helfen, oder Differenzierungen als unangemessene verwerfen. Doch Grenzen bleiben, sie lassen sich allenfalls verschieben.
Ein Beispiel der Begrenztheit bietet aktuell die Physik. Die hypothetisch angenommene, im Kosmos nur indirekt bemerkbare dunkle Materie, ist etwas völlig Unbekanntes. Sie wurde als ‚dunkel‘ beschrieben, nicht weil sie dunkel wäre, entfernt vergleichbar mit einer düsteren Gewitterwolke, sondern aus Verlegenheit. Die dunkle Materie reflektiert kein Licht, es scheint durch sie hindurch, bleibt für menschliche Sinne und von Menschen gefertigte Instrumente unsichtbar. Eine Annahme einer solchen Materie wurde gemacht, weil sich messbare Gravitationskräfte im Rahmen des kosmologischen Standardmodells nicht erläutern ließen; das Standardmodell umfasst u.a. die allgemeinen Relativitätstheorie, die Annahmen über Gravitation enthält.
Unzureichend kann allerdings auch das bisherige Standardmodell sein. (Vgl. Bührke, Thomas, 2012.) Unabhängig davon, wie sich die entstandenen Irritationen auflösen lassen, falls sie sich auflösen lassen, welche Annahmen und Bezüge nicht bloß mögliche bleiben, die physikalische Sicht auf den Kosmos wird sich verändern. Berücksichtigt man jedoch, wie lange über die sonderbaren Gravitationskräfte geforscht wird, bereits in den Dreißiger Jahren des 20. Jhds. fielen dem Schweizer Astronom Fritz Zwicky unerklärbare Bewegungen im Kosmos auf (vgl. Lindner, Manfred; Marrodán Undagoitia, Teresa; Schwetz-Mangold, Thomas; Simgen, Hardy, 2014), wird ersichtlich, welche historischen Ausmaße eine Ungewissheit erlangen kann, die bis in die Grundlagen reicht.

Vielleicht klingt es manchem verrückt, mich sprachlich auf Erzeugnisse meines Gehirns beziehen zu müsse, die als solche anderen nicht zugänglich sind, und nach Angemessenheit zu fragen. Dieser vergleichsweise autistische Vorgang kann jedoch in jedem Menschen geschehen. Hinzukommt, dass ich diese Erzeugnisse nicht konstruiere, nur wenig direkten Einfluss darauf habe, was mir mein Gehirn präsentiert. Dieses Gehirn nutzt vor allem entstandene Routinen, die sich im Hinblick auf neue Situationen auch als angesammelte Vorurteile interpretieren ließen. Nach sprachlicher Angemessenheit zu fragen, gönnt dem Automatismus eine Pause. Doch auch diese Frage und die bisherigen Antworten können in einen Automatismus gelangen, der auf relevante Bedingungen und Details keine Rücksicht mehr nimmt. Sicherheit in Erkenntnisprozessen zu erlangen, wäre etwas anderes. Es würde auch nicht ausreichen, auf Zustimmung zu hoffen. Die beschriebene Unsicherheit gälte für alle Ansprechbaren gleichermaßen. Doch obwohl keine Sicherheit erlangbar, meine Freiheit unter Einbezug aktiver Hirnroutinen beschränkt ist, eröffnet sich eine Möglichkeit zur Autonomie (vgl. Roth, Gerhard, 2001, S. 427 ff.).

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