Dienstag, 4. Februar 2020

(2.1) Sprachlicher Bezug und Wahrheit (2. Aufl.)

Weil man Menschen nicht einfach in den Kopf schauen kann, um zu erfahren, über was sie reden, auch die von Quine beanspruchten Reizbedeutungen sind allgemein nicht zugänglich, ist man als Zuhörer oder Leser auf sprachliche Erläuterungen angewiesen. Solche Erläuterungen können sehr unterschiedlich ausfallen, so dass unter Umständen offen bleiben kann, ob über etwas gesprochen wird, nicht nur z.B. menschliche Erregung zum Ausdruck gelangt.
Ansprüche, bezugnehmende Erläuterungen darüber zu geben, von wo welche Gefahr droht, ob und wo es Wasser gibt oder was man wieder angestellt habe, gehörten vermutlich schon zum steinzeitlichen Alltag. Und der Satz, „Sag die Wahrheit! “, ist wahrscheinlich noch heute Bestandteil von Kindheitserfahrungen. Der umgangssprachliche Wahrheitsanspruch steht gemeinhin der Lüge gegenüber, bei der man erwischt werden kann und die in der Regel sanktioniert wird, ob mit einer wütenden Drohgebärde, mit einem strengen Verweis aufs Kinderzimmer oder mit einer überfallhaften Dresche. ‚Wahrheit‘ und ‚Lüge‘ sind in diesem Kontext praktisch eingebunden, und um die praktische Relevanz noch zu erhöhen, möglich wäre als Reaktion auf eine kindliche Erläuterung auch ein spontanes Schmunzeln, weil z.B. Wahrheit und Lüge eine erstaunliche Melange eingegangen sind.

Die Herkunft von Worten ‚Wahrheit‘ und ‚Lüge‘ aus der Praxis ist auch in der philosophischen Literatur zu finden, besonders innerhalb von ethisch ausgerichteten Werken. Über Wahrhaftigkeit als Tugend bzw. Haltung wird seit Aristoteles (vgl. Bien, Günther (Hg.), 1985, 1127a-1128a, S.94-96 – viertes Buch, Kap. 13) diskutiert, gar nicht selten in rigoroser Manier, unabhängig von möglicherweise relevanten Bedingungen und Umständen. In der Nikomachschen Ethik ist zu lesen: „Nun ist die Lüge an sich schlecht und tadelnswert und die Wahrheit gut und lobenswert.“ (Vgl. ebd., 1127a, S.95.) Mit einer Liebe zur Weisheit, gemäß der Übertragung von altgriechisch φιλοσοφία‘, aus der eine Berücksichtigung von Bedingungen und Umständen erwachsen könnte, hat eine solche Rohrstock-Ethik nichts gemein. Generell ließe sich ein normativer Anspruch leicht in Frage stellen, bereits mit der einfachen, kindlich anmutenden Frage: Warum? Aus praktischer Sicht sind doch nicht beliebige allgemeine Normen interessant, sondern Handlungssituationen, -resultate und mögliche kausale Folgen. Kamlah hat die alte ethische Suche nach griffigen Normen um die Frage, wie gelebt werden kann (vgl. Kamlah, Wilhelm, 1984, S.145), ergänzt. Diese Ergänzung könnte man auch als eine alternative Ausrichtung betrachten, die Menschen nicht den Weg in eine Mündigkeit bzw. Autonomie versperren würde, ethisch als auch praktisch letztlich angemessener wäre.

Im Unterschied zu praktischen Situationen, in denen Wahrhaftigkeit durchaus zum Tode vieler Menschen beitragen könnte, z.B. durch Verrat in einer Kriegsgefangenschaft, Ironie und Übertreibung künstlerische Mittel sein können, um etwas hervorzuheben, sind Philosophie und Wissenschaften in der Regel auf Wahrheit ausgerichtet. Um was es sich dabei handelt, wird jedoch unterschiedlich beantwortet.
Speziell Aristoteles’ Fassung wird häufig in den Kontext von Korrespondenztheorien gestellt, in denen eine Übereinstimmung mit der Wirklichkeit / Realität entscheidend ist. Aristoteles äußert sich jedoch viel spezifischer: Wahr ist, nach Aristoteles, wenn Behauptetes zutrifft. („Zu sagen nämlich, das Seiende sei nicht, oder das Nicht-Seiende sei, ist falsch, dagegen zu sagen, das Seiende sei und das Nicht-Seiende sei nicht, ist wahr.“ (Vgl. Seidel, Horst (Bearb.), 1982, 1011b, S.171). Ebenso ließe sich anführen, dass Urteile ‚wahr‘ und ‚falsch‘ auch logische Vereinbarkeiten bzw. Unvereinbarkeiten betreffen können (vgl. ebd.). In diesem Kontext ließe sich von einem Kohärenzansatz sprechen. Eine systematische Differenzierung liegt bei Aristoteles nicht vor. Wahrheitstheorien des 20. Jahrhunderts hatte man im alten Griechenland nicht ausgebildet.

Hier ist nicht der Raum, um ausführlich über verschiedene Wahrheitstheorien (vgl. z.B. Puntel, L. Bruno, 1978) bzw. -definitionen zu sprechen, aber bereits die Tatsache, dass ‚Wahrheit‘ mit Verschiedenem erläutert und identifiziert wird, könnte die Frage aufkommen lassen, wofür solche metasprachlichen Wahrheitsbegriffe bzw. -worte erforderlich sind. Egal ob sprachlicher Bezug im Zentrum steht, logische Vereinbarkeit, also Richtigkeit, oder ein Konsens unter Experten, all dies lässt sich sachlich angemessen erläutern und diskutieren, ohne ‚Wahrheit‘ bemühen zu müssen. Ob eine Entscheidung für eine der Ausrichtungen grundsätzlich angemessen wäre, fällt in diesem Rahmen kaum auf. Mir liegt sowohl an Bezügen als auch innertheoretischen Vereinbarkeiten viel, um auf einen zu erlangenden Konsens unter ohnehin divergierenden Experten zu hoffen, fehlt mir hingegen der erforderliche Glaube.

Weil besonders in der Philosophie die Frage nach sprachlichen Bezügen keine einfache ist, nicht nur da fraglich werden könnte, was Philosophie mit Wirklichkeit / Realität zu tun habe, sondern auch, wie ich auf ‚sprachliche Bezüge‘ komme, beziehe ich Tarskis semantische Wahrheitsdefinition ein, die besonders innerhalb der analytischen Philosophie und im kritischen Rationalismus eine wichtige Rolle eingenommen hat. Zunächst muss hervorgehoben werden, dass Tarski eine Definition für formalisierte Sprachen endlicher Ordnung entwickelte, in Abgrenzung zu Umgangssprachen (vgl. Tarski, Alfred, 1935, S.537-538). Um als formalisierte Sprache gelten zu können, wäre meine fachspezifische aber essayistische Vorgehensweise vermutlich ungeeignet. Tarskis Ansprüche sind an den Zeichensprachen von Logik und Mathematik ausgerichtet (vgl. ebd., S.458-459), die für mein Vorhaben schlicht ungeeignet wären, auch falls mir dadurch eine Präzision fehlen würde, die zu erreichen Tarskis erläutertes Anliegen ist (vgl. ebd., S.448).
Auch die Möglichkeit, ein Lügnerparadox ausbilden zu können, beschäftigte ihn (vgl. ebd., S.447). Die Behauptung, der aktuell geäußerte Satz sei falsch, lässt einen (Selbst-)Bezug erkennen, der die Äußerung in Frage stellt. Berücksichtigte man, dass sich Logik und Mathematik ohnehin nicht beziehen – vordergründig ließe sich annehmen, allenfalls durch Konstanten und Variablen, sobald Bezüge auf Empirie definiert seien -, wäre die Möglichkeit, sprachlich ein Lügnerparadox ausbilden zu können, eine besondere Qualität der Sprache. Das Paradox ließe sich als ein Beispiel verwenden, wie Bezüge gebildet werden, wäre auf den ersten Blick ebenso ein Beispiel für sprachliche Unangemessenheit, ließe sich durch ein Kriterium ‚sprachliche Angemessenheit‘ im Hinblick auf Bedeutungen und Bezüge durchaus vermeiden, sähe man von Situationen wie Comedy ab, in denen durch das Paradox ein Spaß, wenn auch kein origineller, entstehen könnte. Dazu ein weiteres, ein erläuterndes Beispiel: Einen Akteur mit dem Satz, „Alles was ich sage, ist falsch! “, die Bühne betreten zu lassen, könnte ein langgezogenes „Oh! “ als Antwort bzw. Kommentar folgen lassen, in diesem Zusammenhang wäre nicht die Logik relevant, sondern möglicherweise Erfahrungen, fortlaufend auf Widerstand zu stoßen. ‚Alles‘ wäre Ausdruck dieser vielfach gemachten Erfahrungen, bezöge sich in diesem Fall nicht auch auf diesen Satz, es sei denn, ein Selbstbezug würde am Ende der Szene als Pointe erkennbar werden.
Solche sprachlichen Differenzierungen und Preziosen, auch wenn sie heute kaum originelle wären, sind logisch und mathematisch gar nicht bildbar, solange u.a. an einer einfachen Zweiwertigkeit (wahr / falsch) festgehalten wird, und man würde mit Ansprüchen, die aus einer Beschäftigung mit Logik und Mathematik erwachsen sind, Sprache unangemessen behandeln. Tarski bemängelt eine sprachliche Tendenz zum Universalismus (vgl. ebd.), vermutlich, unter Berücksichtigung des Kontextes, sich sprachlich beliebig beziehen zu können. Dagegen hebt er im Kontext einer formal vollständig beschreibbaren Sprache der Logik ihren universalen Charakter hervor, aufgrund ihrer Relevanz für deduktive Systeme (vgl. ebd., S.501).

Tarskis bekundetes Interesse richtet sich auf die Konstruktion einer Definition von ‚wahre Aussage‘ (vgl. ebd., S.494). Um eine Definition konstruieren zu können, ist zunächst eine Metasprache („Metawissenschaft“) einzurichten, die drei Gruppen von Aussagen (bzw. Axiomen) enthält: allgemein logische, Definitionsausdrücke und deskriptive Axiome (vgl. ebd., S.494-495). Ich möchte den gesamten Konstruktionsaufwand aber nicht erläutern, sondern mich den ersten Ergebnissen zuwenden. Zentrales metasprachliches Mittel für die Definition ist: „Erfülltsein einer Aussagefunktion durch eine Folge von Gegenständen“ (vgl. ebd., S.478, 497). Die Begriffe bzw. Worte ‚Erfülltseins‘, oder schlichter ‚Erfüllung‘, werfen erste Fragen auf. Umgangssprachlich können Menschen von Liebe erfüllt sein, Bedingungen, Träume und Wünsche sind eventuell erfüllbar, auch Abfüllungen wären möglich, z.B. mit Bier, in all diesen Fällen, vielleicht mir Ausnahme von geäußerten Wünschen, spielt aber Sprache keine erkennbare Rolle. Die Erfüllung einer Aussagefunktion würde sich markant von jenen Fällen abheben, ließe sich vielleicht am ehesten mit einer geäußerten Wunscherfüllung vergleichen.
Als Erläuterung gibt Tarski lediglich einige Schemata, zwischen denen zu lesen ist, dass „Schnee die Aussagefunktion „x ist weiß“ erfüllt“ (vgl. ebd., S.478). Der formale Eifer kommt erstaunlich schnell zu einem Stillstand, indem lediglich auf mathematisch logische Konventionen zurückgegriffen wird, ohne zu erwägen, ob ‚Erfüllung‘ überhaupt sprachlich angemessen ist. Im Unterschied zu einem geäußerten Wunsch, der sich auf etwas Bestimmtes richtet, ob auf Konkretes (ein Glas Bier), auf Allgemeines (ein friedvolles Zusammenleben der Menschen) oder auf Konkret-Abstraktes (eine Lösung für eine logische Aufgabe) und einer möglichen Befriedigung, bietet jene Aussagefunktion ‚x ist weiß‘ eine Variable, die sich allenfalls sprachlich füllen ließe, z.B. durch ein Wort ‚Bier‘. Eine bloße Füllung würde jedoch nicht ausreichen, die Aussagefunktion enthält auch eine beschriebene Bedingung: ‚ist weiß‘. Diese Bedingung grenzt die möglichen Bezüge der einsetzbaren Worte ein. ‚Erfüllung‘ wäre auf Worte gerichtet, deren Sachen, auf die durch jene Bezug genommen wird, sich mit der formulierten Bedingung beschreiben lassen.
Die Metapher ist sprachlich durchaus erläuterbar, setzt in der gegebenen Version aber sehr, sehr viel voraus: sieht man von dem sonderbaren Bau der Metapher ab, zentral die Formulierungen ‚sprachlicher Bezug‘ und ‚empirische Bedingung‘. Falls aber Schnee die Aussagefunktion erfüllen könnte, nicht Worte mit relevantem Bezug, wäre hervorzuheben, dass sich Schnee nicht in die Funktion einsetzen ließe. Es läge, würde man dies für möglich halten, eine Verwechslung von Wort und Sache vor. Demgegenüber könnte eine Sache aber einen sprachlich geäußerten Wunsch erfüllen, diesen befriedigen.

Um mit der Definition voranzukommen, bildet Tarski einige Jahre später eine ‚Äquivalenzform T‘ (Truth) aus: x ist wahr genau dann, wenn p, wobei ‚x‘ einen einen Satz enthält, der ‚p‘ beschreibt (sein Name sei). (Vgl. Tarski, Alfred, 1944, S.59.) Entstanden ist diese Form aus der beispielhaften Aussage: ‚Schnee ist weiß‘ ist wahr genau dann, wenn Schnee weiß ist. Und erneut greift Tarski ein Wort ‚Erfüllung‘ auf, erläutert es diesmal explizit als „Beziehung zwischen beliebigen Gegenständen und bestimmten Ausdrücken, genannt Aussagefunktionen“ (vgl. ebd., S.71). Eine solche Aussagefunktion ist z.B. ‚x ist weiß‘.
In diesem Fall beträfe Erfüllung, soweit ich dies erkennen kann, nicht eine Einsetzbarkeit in die Funktion, sondern all das, worauf sich die Funktion insgesamt beziehen kann, also auf Sachen bzw. Sachverhalte, vergleichbar mit einer konkreten Wunschäußerung. Da weiterhin auch ‚x ist weiß‘ zu füllen wäre, eine solche bedingungsrelevante (Er)füllung nur durch Sprache möglich wäre, hätte man innerhalb eines Gesamtüberblicks zwei verschiedene Erfüllungsbegriffe. Der von Tarski explizierte Erfüllungsbegriff, der fundamentaler als ‚Wahrheit‘ sei (vgl. ebd.) berücksichtigt die Äquivalenzform, aber in einer unangemessenen Weise: Die Aussagefunktion ‚x‘ steht in T einer empirischen Bedingungsbeschreibung ‚p‘ gegenüber, die nur wahr bzw. erfüllbar wäre, wenn ‚x‘ das ‚p‘ beschreibt (Name von ‚p‘ ist). Die Bedingungsbeschreibung ist jedoch keine nichtsprachliche Sache, sondern Sprachliches. Tarski vergleicht aber Beschreibung (‚x‘) mit Empirie (‚p‘), genau dies ist innerhalb der Form logisch nicht möglich! Vergleichbar wären lediglich Aussagefunktion und Bedingungsbeschreibung. Wenn ‚p‘ als Sprachliches relevant wäre, würde T erst funktionieren können, sobald nach einer Umformulierung eine Austauschbarkeit der Sätze oder eine Tautologie herauskäme.
Die Äquivalenzform T behandelt keine logische Äquivalenz von Sätzen, sondern eine kausale Wenn-Dann-Relation: Wenn ‚p‘, dann ist ‚x‘ wahr, bzw., um die kausale Relation präziser zu fassen, wenn ‚p‘, dann lässt sich ‚x‘ als wahr beurteilen. Konkret: wenn Schnee weiß ist, dann ist ‚Schnee ist weiß‘ wahr, bzw., wenn Schnee weiß ist, dann lässt sich ‚Schnee ist weiß‘ als wahr beurteilen. ‚Wahrheit‘ reduziert sich auf einen zu beurteilenden Bezug. Ein solches Ergebnis hätte man sehr viel einfacher haben können.

Wenn im Kontext einer semantischen Wahrheitsdefinition lediglich die Frage nach vorliegenden oder nicht vorliegenden sprachlichen Bezügen relevant ist, dann kann auf eine metasprachliche Marke wie ‚Wahrheit‘ leicht verzichtet werden. Auch ließe sich nach Bezugsumfängen fragen, also viel differenzierter vorgehen als im Rahmen einer alten und vor allem einschränkenden Zweiwertigkeit (wahr / falsch). Man würde letztlich die Chance ergreifen können, Sprache angemessen zu behandeln, auch und besonders fachlich. Es würde die Frage bleiben, die auch für das vorliegende Kapitel von zentraler Relevanz war, über was gesprochen wird.

Davidson hat Tarskis Konzeption als Ausgang für natürliche Sprachen genutzt, aber Modifikationen vorgenommen, die es erlauben, konkretere Bezüge vorzunehmen. Er erweiterte im Rahmen seines Interpretationsansatzes die Definition um Paramter wie Sprache und Zeit (vgl. Davidson, Donald, 1994, S.40-67). Probleme mit Metaphern wie ‚Erfüllung‘ oder eine mögliche Redundanz von ‚Wahrheit‘ sah er nicht.

Samstag, 1. Februar 2020

(1.5) Wirklichkeit und sprachliche Angemessenheit (2. Aufl.)

Luhmann hatte einen allgemeinen Systembegriff entwickelt, der lediglich Sinn voraussetzt, Bedeutung, irgendeine Ordnung (vgl. Luhmann, 1987). In diesem Kontext wäre auch ein Sammelsurium eine Ordnung, die sich hinsichtlich von Funktionszusammenhängen analysieren ließe. Doch die Vokabeln ‚Sinn‘ und ‚Bedeutung‘ ließen sich allgemein gar nicht verstehen, berücksichtigte man den einfachen Unterschied von Sprache und Sachen bzw. Sachverhalten. Würde man sich hingegen auf Sachen und Sachverhalte beschränken, könnte allenfalls von ‚Relevanz‘ die Rede sein, ohne dass klar werden könnte, in welcher Weise. ‚Ordnung‘ wird (a) zunächst derart weit gefasst, dass der Begriff nichts aussagt, (b) dann aber spezifisch, im Kontext von zu ermittelnden Funktionszusammenhängen.
Der von Luhmann präsentierte Systembegriff bietet nicht mehr als eine umgangssprachliche Herangehensweise,die alles andere als hilfreich ist, aber im Hinblick auf den Begriff ‚Ordnung‘ ein primär bürokratisches Anliegen kenntlich machen könnte. Das von mir anführte Sammelsurium ist hingegen ein Resultat historischer Prozesse, von Prozessen, die von unterschiedlichen Gruppen und Individuen geprägt wurden. Diese historische Perspektive vermeidet eine quasi-ontologische Fundierung, die aus ahistorischer Sicht erforderlich zu sein scheint, um überhaupt einen Anfang der Diskussion setzen zu können. Es bleibt nach meinem Ermessen kaum anderes übrig, als sich auf ein Abenteuer einzulassen, das ein historisch entstandenes Sammelsurium bieten kann.

Sprachlich macht es kaum einen Unterschied, ob ein historisch entstandenes Sammelsurium einer Wirklichkeit – im Rahmen menschlicher Erkenntnisbedingungen –, oder einer unabhängigen Realität zugerechnet wird. Die nutzbaren Worte für Beschreibung, Differenzierung und Analyse wären gleich. Erst im Kontext einiger methodischer Begriffe wie ‚Objektivität‘ und einer erkenntnistheoretischen Interpretation von historischen Ergebnissen würde der Unterschied auffallen können.
Weil methodische Erwägungen auch in dieser Arbeit von Relevanz sind, gebe ich einige Anmerkungen: Mir, so muss ich gestehen, bleibt eine Realität, die außerhalb meiner Erkenntnisbedingungen liegt, unzugänglich. Diese Bedingungen umfassen mehr als lediglich biologische, auch sprachliche und soziale, die historisch eingebettet sind. Die alte Frage nach Objektivität, in Abgrenzung zu Subjektivität, würde sich mir gar nicht stellen können, weil sie besonders auf historische Bedingungen keine hinreichende Rücksicht nimmt. Ich kann im vorliegenden Kontext lediglich nach sprachlicher Angemessenheit fragen, im Hinblick auf Bedeutung und Bezug – und, davon war bislang noch nicht die Rede, dies wird innerhalb der Studie aber erforderlich sein, auf sprachliches Verhalten. Eine allgemein reproduzierbare Methode lässt sich auf diese Weise nicht entwickeln, es lassen sich nur konkrete Fälle kontextabhängig behandeln.

Die Grenzen menschlicher Erkenntnis lassen sich erweitern, z.B. durch Messinstrumente und -verfahren, oder / und durch sprachliche Differenzierungen, die Unterschiede merklich machen können, einen größeren Detailreichtum erfassen helfen, oder Differenzierungen als unangemessene verwerfen. Doch Grenzen bleiben, sie lassen sich allenfalls verschieben.
Ein Beispiel der Begrenztheit bietet aktuell die Physik. Die hypothetisch angenommene, im Kosmos nur indirekt bemerkbare dunkle Materie, ist etwas völlig Unbekanntes. Sie wurde als ‚dunkel‘ beschrieben, nicht weil sie dunkel wäre, entfernt vergleichbar mit einer düsteren Gewitterwolke, sondern aus Verlegenheit. Die dunkle Materie reflektiert kein Licht, es scheint durch sie hindurch, bleibt für menschliche Sinne und von Menschen gefertigte Instrumente unsichtbar. Eine Annahme einer solchen Materie wurde gemacht, weil sich messbare Gravitationskräfte im Rahmen des kosmologischen Standardmodells nicht erläutern ließen; das Standardmodell umfasst u.a. die allgemeinen Relativitätstheorie, die Annahmen über Gravitation enthält.
Unzureichend kann allerdings auch das bisherige Standardmodell sein. (Vgl. Bührke, Thomas, 2012.) Unabhängig davon, wie sich die entstandenen Irritationen auflösen lassen, falls sie sich auflösen lassen, welche Annahmen und Bezüge nicht bloß mögliche bleiben, die physikalische Sicht auf den Kosmos wird sich verändern. Berücksichtigt man jedoch, wie lange über die sonderbaren Gravitationskräfte geforscht wird, bereits in den Dreißiger Jahren des 20. Jhds. fielen dem Schweizer Astronom Fritz Zwicky unerklärbare Bewegungen im Kosmos auf (vgl. Lindner, Manfred; Marrodán Undagoitia, Teresa; Schwetz-Mangold, Thomas; Simgen, Hardy, 2014), wird ersichtlich, welche historischen Ausmaße eine Ungewissheit erlangen kann, die bis in die Grundlagen reicht.

Vielleicht klingt es manchem verrückt, mich sprachlich auf Erzeugnisse meines Gehirns beziehen zu müsse, die als solche anderen nicht zugänglich sind, und nach Angemessenheit zu fragen. Dieser vergleichsweise autistische Vorgang kann jedoch in jedem Menschen geschehen. Hinzukommt, dass ich diese Erzeugnisse nicht konstruiere, nur wenig direkten Einfluss darauf habe, was mir mein Gehirn präsentiert. Dieses Gehirn nutzt vor allem entstandene Routinen, die sich im Hinblick auf neue Situationen auch als angesammelte Vorurteile interpretieren ließen. Nach sprachlicher Angemessenheit zu fragen, gönnt dem Automatismus eine Pause. Doch auch diese Frage und die bisherigen Antworten können in einen Automatismus gelangen, der auf relevante Bedingungen und Details keine Rücksicht mehr nimmt. Sicherheit in Erkenntnisprozessen zu erlangen, wäre etwas anderes. Es würde auch nicht ausreichen, auf Zustimmung zu hoffen. Die beschriebene Unsicherheit gälte für alle Ansprechbaren gleichermaßen. Doch obwohl keine Sicherheit erlangbar, meine Freiheit unter Einbezug aktiver Hirnroutinen beschränkt ist, eröffnet sich eine Möglichkeit zur Autonomie (vgl. Roth, Gerhard, 2001, S. 427 ff.).